Wahrnehmungs- und verhaltensgeographische Aspekte bei Nutzern von Autobahnkirchen in Westfalen

01.09.2015 Nicolas Hendricks

Inhalt

Insgesamt 42 Autobahnkirchen gibt es in Deutschland, sechs von ihnen befinden sich in Westfalen (Stand 2014; s. Beitrag Hendricks). Doch welche Personen finden überhaupt den Weg in eine solche Einrichtung? Wie kann man Menschen, die Autobahnkirchen besuchen, charakterisieren, und welche Motive leiten diese dazu, eine Kirche an bzw. direkt neben der Autobahn anzusteuern?

Ebertz/Werner (2008) untersuchten die selektive Nutzung von Autobahnkirchen durch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Grob vereinfacht sind Autobahnkirchenbesucher danach eher männlich als weiblich, eher alt als jung, eher verheiratet als ledig und eher katholisch als evangelisch. Hinsichtlich der Besuchsintentionen stellten sie fest, dass die Autobahnkirchen keine Funktion als missionarischer Vorposten besitzen. In der Regel sind diese Einrichtungen also keine Anlaufstelle für Personen, die auch sonst nicht zur Kirche gehen. Vielmehr bieten Autobahnkirchen gläubigen Menschen einen zusätzlichen Standort zur Ausübung ihrer Religion.

Zumeist kirchliche Kernmitglieder

Autobahnkirchenbesucher haben "eine überdurchschnittlich hohe Bindung an ihre Kirche, deren Glauben sie teilen und der ihnen Halt gibt" (ebd., S. 2). Auch verfügen Autobahnkirchenbesucher über eine sehr hohe Bindung an die eigene Gemeinde und gehören zumeist zur Gruppe der "kirchlichen Kernmitglieder" (ebd, S. 2). Autobahnkirchen ziehen also vor allem Personengruppen an, die einen zusätzlichen kirchlichen Impuls auf ihrer jeweiligen Reise wahrnehmen wollen.

Die Autobahnkirchenbesucher suchen zumeist einen Ort der Ruhe, der Stille und der Besinnung und haben dabei einen religiösen Hintergrund. Hauptintentionen sind Gebet und Besinnung sowie Ruhe und Entspannung. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus geistlichem und psychisch-physischem Auftanken. Darüber hinaus geht aus der Studie hervor, dass der Großteil der Autobahnkirchenbesucher bereits zum wiederholten Male eine Einrichtung dieser Art besucht.

Abb. 1: Autobahnkirche Münster-Roxel (Foto: N. Hendricks 2015)

Wegweiser zum Gotteshaus

53% der von Ebertz/Werner befragten Personen hatten über die Beschilderung an der Autobahn auf ihrer Berufs-, Urlaubs- oder Besuchsreise den Weg zu der jeweiligen Autobahnkirche gefunden. Rund die Hälfte der Personen plante den Autobahnkirchenbesuch bereits vor dem Antritt ihrer Reise. Die Kirche ist dabei selten Ziel der jeweiligen Reise, sondern wird zumeist zum Zweck des Zwischenstopps während einer Autofahrt angesteuert. Der Besuch der Autobahnkirche – egal ob als Haupt- oder Anschlusshandlung – ist zumeist auch an ein weiteres Nutzungsspektrum am jeweiligen Standort gekoppelt. Diese Nutzung ist häufig weniger technisch (Tanken, Öl nachfüllen), sondern orientiert sich zumeist an den menschlichen Bedürfnissen in Form eines Raststätten- oder WC-Besuchs.

Schmidt veröffentlichte 2012 sein Werk "Autobahn-Tankstellen der Seelen" und begründete dabei die massive zahlenmäßige Steigerung von Autobahnkirchen der letzten Jahrzehnte – von zehn im Jahr 1994 auf mittlerweile deutschlandweit 42 Kirchen und Kapellen (2014) – mit einer immer weiter wachsenden Mobilität innerhalb der Gesellschaft und einer gleichermaßen steigenden Gefahr im Straßenverkehr. Auch eine wachsende Identifikation mit alten Kirchen sieht der Autor als möglichen Grund dieser Entwicklung.

Abb. 2: Autobahnkirche Hamm-Rhynern (Innenansicht) (Foto: N. Hendricks 2014)

Ruhe, Stille und Besinnung

Während Ebertz/Werner 2008 eine umfangreiche quantitative Erhebung durchführten, um damit eine große Anzahl an Autobahnkirchenbesucher zu erfassen und diese anschließend zu charakterisieren, führte Hendricks 2014 eine Befragung mit qualitativen Schwerpunkten durch. U. a. an den westfälischen Autobahnkirchenstandorten in Münster-Roxel (Abb.1), Hamm-Rhynern (Abb. 2) und Wilnsdorf im Siegerland (Abb. 3) interviewte er zwölf Personen nach deren Besuch einer Autobahnkirche.

Aus dieser Befragung bestätigten sich zunächst die von Ebertz/Werner analysierten religiösen Hintergründe der Besucher: Bei acht von zwölf Befragten Personen fielen die Begriffe "Ruhe", "Stille" oder "Besinnung" in einem religiösen Kontext. Lediglich drei Personen sprachen davon, den Stress einer anstrengenden bzw. langen Fahrt abbauen zu wollen. Für zwei von ihnen hat der Faktor Stressabbau jedoch eine enge Verbindung zu einem gewissen religiösen Impuls. Bei diesen beiden Personen handelte es sich bei der in der Kirche ausgeübten Handlung um das Sprechen eines kurzen Gebets. Zwei weitere Befragte gaben an, häufiger eine Autobahnkirche besuchen zu wollen, allerdings nur selten über die Autobahn zu fahren. "Ich halte hier immer, wenn ich vorbeifahre", berichtete etwa ein ehemaliger Pfarrpraktikant aus Baden-Baden.

Keine religiöse Handlung, sondern lediglich ein Besichtigen des Bauwerks sowie der ausgestellten Bilder und Motive, gaben drei Personen als durchgeführte Handlung während des Autobahnkirchenbesuchs an. Sie kamen aus "purer Neugier" bzw. aus, mit dem erstmaligen Anblick geweckten, "spontanen Interesse". Für einige Personen sind also kulturell-touristische Aspekte wie Architektur sowie ausgestellte Bilder und Motive die Hauptmotivation ihres Autobahnkirchenbesuchs. Eine Pause zum Zweck der Entspannung, die beispielsweise auch ein Ruheraum mit Liegestühlen an selber Stelle bieten könnte, suchen die Autobahnkirchenbesucher in den untersuchten Einrichtungen nicht.

Anker auf der Autobahn

"Für uns ist Kirche immer ein Anker, um Kraft zu tanken. Das hier ist dann eben mein Anker auf der Autobahn. Ein Raum für Besinnung, für christliche Stimmung. Ohne unsere Religion wären wir nicht hierhergekommen", erklärte ein Ehepaar aus Oldenburg an der Autobahnkirche in Münster-Roxel an der A1. Auf dem Heimweg und aus Süddeutschland kommend, wollte das Paar "danken, dass die Fahrt bisher gut gelaufen ist" (Hendricks 2014, S. 46).

Auch die Anonymität spielt bei Autobahnkirchenbesuchern eine Rolle: "(…) außerdem ist es der einzige Ort, an dem ich meine Gedanken schweifen lassen kann. Man kann viel mehr zulassen und muss sich für gar nichts rechtfertigen", berichtete ein Mann in einer Autobahnkirche. Dieser beschreibt die Kirche als einen "Ort der Ruhe, an dem man göttliche Hilfe und Unterstützung erfährt" (ebd., S. 46).

Abb. 3: Autobahnkirche Siegerland (Innenansicht) (Foto: N. Hendricks 2014)

Zwischen spontanem Dank und Ritual

Sehr spontan gestaltete sich der erste Besuch einer zuvor wenig religiösen Person: "Wenn es sowas wie einen Schutzengel gibt, dann hab ich den gerade gehabt. Zwischen mir und dem Lastwagen war höchstens noch ein Zentimeter Platz, aber es ist nichts passiert. Danach bin ich hier abgefahren und habe Gott dafür gedankt". Dieser Autobahnkirchenbesucher war unter den Befragten jedoch die einzige Person, die seine Motivation des Kirchenganges aus Dank für das Überstehen einer unmittelbar erlebten Gefahrensituation herauszog.

Ein besonderes, wöchentlich stattfindendes Ritual auf seinem Weg zur Arbeitsstelle im Ruhrgebiet hat ein in Beckum lebender Berufspendler an der Autobahnkapelle Hamm-Rhynern an der A2 entwickelt: "Ich komme viermal die Woche mit dem Auto hier vorbei, gehe aber nur einmal in der Woche rein. Das entscheide ich dann immer sehr spontan". Auf der Suche nach Ruhe in der Umgebung der Autobahnkapelle verlässt der Pendler zunächst am Wochenbeginn die dreispurige Autobahn und sondiert den Parkplatz zwischen Großtankstelle und Autobahnkirche: "Ich gucke immer, ob viele Trucker hier stehen oder andere Leute in der Kirche sind. Das sehe ich immer an den Autos am Parkplatz. Nur wenn nichts los ist und der LKW-Parkplatz (…) nicht überfüllt ist, halte ich wirklich an und gehe rein. Meistens ist das direkt montags oder dienstags, diesmal ist es ein Mittwoch" (ebd., S. 43).

Regionale Identität

Darüber hinaus scheinen Autobahnkirchen sogar einen Beitrag zur regionalen Identität zu leisten. Ein von Hendricks an der Autobahnkirche Siegerland (A45) befragtes Ehepaar, welches nur wenige Kilometer von der Einrichtung entfernt wohnt und diese ihren Enkelkindern zeigte, traf folgende Aussage: "Die Kirche ist ja auch wirklich einzigartig. Wir sind schon ein bisschen stolz. Dieses Bauwerk ist schon eine richtige Bereicherung für das Siegerland. Wir erzählen auch anderen Leuten mittlerweile davon, wenn wir mal unterwegs sind oder Fremde treffen, mit denen man ins Gespräch kommt" (ebd., S. 51).

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2015