Biodiversitätskrise – wir löschen die Festplatte der Natur
Was haben in Westfalen das Pyrenäen-Löffelkraut (Cochlearia pyrenaica) aus den Quellen der Alme und das Violette Galmei-Stiefmütterchen (Viola guestphalica) (Abb. 1) von den schwermetallhaltigen Galmeifeldern bei Blankenrode auf der Paderborner Hochfläche (s. Beitrag Loos/Gausmann) gemeinsam? Beide stehen auf der Roten Liste stark gefährdeter Arten. Seit 1970 hat die Artenvielfalt weltweit um etwa 40% abgenommen. Hauptursachen hierfür sind Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Lebensraumzerstörung, Flächenversiegelung und Überdüngung. Um auf den weltweit akut drohenden Verlust der biotischen Vielfalt von Tieren und Pflanzen aufmerksam zu machen, hatten die Vereinten Nationen das Jahr 2010 zum "Internationalen Jahr der Biologischen Vielfalt" erklärt. Damit sollten deren Bedeutung sowie die Folgen ihres Verlustes für die globale wirtschaftliche und humanpolitische Entwicklung stärker in das allgemeine Bewusstsein rücken.
Die natürliche Artenvielfalt der Erde
Es ist nicht exakt bekannt, wie viele Arten aktuell auf der Erde leben. Schätzungen gehen von ca. 15 Millionen aus. Benannt und beschrieben sind etwa 1,75 Millionen Arten; auf ihre Gefährdung hin untersucht wurden allerdings bisher nur gut 40.000 Arten. Möglicherweise gibt es aber viel weniger Pflanzenarten auf der Erde als bisher angenommen. Zwar sind bislang etwa eine Million Namen beispielsweise für Pflanzenarten vergeben, gesichert ist jedoch nur die Existenz von etwa 280.000 Arten. Nach jahrelangen Vergleichen entpuppte sich eine große Zahl nur als Synonym oder gar als Variante für bereits bekannte oder beschriebene Pflanzen. Gleichzeitig wissen wir, dass eine viel größere Zahl von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren auf der Erde zu finden ist, als wir bislang kennen. Diese Arten sind noch unerforscht, und ihre Zahl liegt wahrscheinlich zwischen 400.000 und drei bis fünf Millionen.
Noch ist der Prozentsatz der Unkenntnis dieser Organismen-Gruppen und ihrer Artenzahlen ungleich verteilt: So steht die Gesamtzahl von 9.000 Vogelarten (mit 3–5 Neubeschreibungen pro Jahr) und etwa 4.000 Säugetierarten seit hundert Jahren annähernd fest, während es bei den Insekten und den Pilzen beispielsweise nur Grobschätzungen gibt. Völlig unbekannt ist die Artenzahl der Mikroorganismen, z.B. die ungeheure Vielfalt an Bakterien und Viren.
Der Mensch als Verursacher des Artensterbens
Für den derzeitigen drastischen Artenrückgang ist der Mensch durch seine unkontrollierte Zerstörung und Beeinträchtigung der natürlichen Lebensräume der Erde direkt oder indirekt verantwortlich. Der weltweit zu beobachtende alarmierende Rückgang der biotischen Vielfalt zeigt sich direkt am Verlust an Arten – besonders der Säugetiere – und an Lebensräumen. Die Natur verarmt, und damit sind letztlich auch die Lebensgrundlagen der Menschen bedroht. Verloren gegangene Biodiversität lässt sich nicht wiederherstellen – der Verlust ist vor allem aus evolutionsbiologischer Sicht irreversibel. Der Mensch ist dabei, die "Festplatte der Natur" zu löschen. Das wird besonders deutlich bei der Zerstörung der tropischen Regenwälder des Amazonas-Gebietes. Diese beherbergen derzeit die höchste Biodiversität aller terrestrischen Ökosysteme der Erde. Sie existieren dort seit 55 Millionen Jahren.
Aktueller Artenschwund
Seit dem Jahr 1600 sind etwa 490 Tier- und etwa 900 Pflanzenarten als vom Menschen ausgerottet registriert. Der aktuelle Artenschwund wird mit rund 4.500 Arten pro Jahr angenommen. Vorwiegend ist dieser Rückgang auf die Entwaldungen in den Tropenregionen und die Zerstörung der tropischen Korallenriffe zurückzuführen. Wenn die derzeitige Entwaldungsrate beibehalten wird, kann sich der Weltartenbestand auf 75% des Ist-Zustandes reduzieren. Mit zynischer Betrachtung könnte man heute sagen, dass die Mikroorganismen, Algen, Pilze, Flechten, Pflanzen und Tiere mit ihren jeweiligen Ökosystemen derzeit schneller aussterben als sie wissenschaftlich erfasst und untersucht werden können.
Ökosystemleistungen der Natur
Damit einhergehend ist der Verlust an Ökosystemleistungen. Gerade die natürlichen Waldökosysteme versorgen die Menschheit mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energie, sie sorgen für Boden-, Grundwasser- und Klimaschutz. Ihre Zerstörung ist oft irreversibel und führt zu Degradationserscheinungen, deren Rekonstitution enorme ökonomische Kosten verursachen. Die Lebensraumzerstörungen und der weltweite Verlust der Biodiversität führen deshalb zu gravierenden negativen Auswirkungen auf die Lebensqualität und Lebensgrundlagen der Menschheit. Wir wissen, dass der neuartige Biodiversitätsverlust immer mit zeitlicher Verzögerung auf die menschlichen Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme folgt; die Konsequenzen heutiger Eingriffe sind nicht immer sofort und direkt bemerkbar, das volle Ausmaß der Artenverluste stellt sich dann aber verspätet ein. Das gilt besonders für die Tropen mit den Regenwaldrodungen für Palmöl- und Sojaplantagen in Asien und Südamerika, aber auch für alle anderen natürlichen Ökosysteme auf der Erde.
Das "Anthropozän"
Überall auf der Erde sind heutige Kulturlandschaften das Produkt einer langen Folge von zivilisatorischen Prozessen. Von Menschen geschaffene und beeinflusste Kulturlandschaften sind im Laufe der letzten zehn Jahrtausende, seit dem Neolithikum, aus natürlichen Lebensräumen hervorgegangen. Mit zunehmender Technisierung war der Mensch in der Lage, sich mehr und mehr über natürliche Bedingungen und Grenzen in der Landschaft hinwegzusetzen und sie weitgehend nach seinen Plänen und Zwecken zu gestalten. Im Zusammenhang mit den wachsenden technischen Möglichkeiten, sich Landschaft und Vegetation dienstbar zu machen, änderte sich auch die geistige Einstellung des Menschen gegenüber seiner Umwelt: Er versteht sich nicht mehr als Glied der Natur, sondern als ihr Beherrscher, und genau wie er hat die Natur dem Fortschritt zu dienen. Der moderne Mensch ist bereit, die Natur seinen ökonomischen Zielsetzungen unterzuordnen. Der italienische Geologe Antonio Stoppani (1824–1891) schuf bereits im Jahr 1873 für dieses Verhalten der industrialisierten Gesellschaft den Begriff des Anthropozäns. Er spielt auf die Fähigkeit des Menschen an, es "mit den großen Gewalten der Natur aufzunehmen". Die globalisierte Land- und Forstwirtschaft steht dafür Beispiel. Dieser Begriff wird heute aber sehr konfrontativ diskutiert: Es gibt Autoren, die aus philosophischer Sicht diesen "Anthropozentrismus" ablehnen, worin der Mensch sich in den Mittelpunkt aller Betrachtungen stellt. Andere sehen die Kräfte der Natur mehr im Fokus ihrer Betrachtungen, wobei hier der Mensch nur ein Teil der natürlichen Kräfte ist, also den Kräften der Natur unterworfen ist.
Die Menschheit verändert jedoch heute die Natur tiefgreifend, global und langfristig. Natürliche Ökosysteme werden zu anthropo-zoogenen Systemen, beispielsweise zu Plastik-Plankton, umgewandelt und sind zusätzlich an manchen Orten den Phänomenen des Klimawandels ausgesetzt. Zum ersten Mal dominiert eine einzige Spezies alle Nahrungsketten in der Biosphäre.
Das Anthropozän, also die in der aktuellen Diskussion vom Menschen seit Beginn des Neolithikums oder seit der Industrialisierung geprägte neue erdgeschichtliche Epoche, steht aber auch als Ausdruck für die Gefahr, die Umweltbedingungen, wie sie in den vergangenen 11.500 Jahren im Holozän, nach dem Ende der letzten Eiszeit, geherrscht haben, unumkehrbar zu zerstören.
Umweltzerstörungen
Die Ursachen für den derzeit starken Schwund der Biodiversität weltweit sind unterschiedlich: Man kann zwischen unmittelbaren Direktwirkungen, beispielsweise den großflächigen Waldrodungen in den Tropen und Subtropen sowie in den borealen Regionen, und den mittelbaren Gründen unterscheiden. Ein mittelbarer Grund ist sicherlich der Anstieg der Erdbevölkerung (Abb. 2) und ihrer Nutztiere mit dem gestiegenen Ressourcenbedarf, speziell dem höheren Bedarf an Bodenfläche, Energie, Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Als unmittelbare Hauptursachen für den Rückgang der Biodiversität werden heute angegeben:
– Ausdehnung von Agrar- und Stadtflächen (Urbanisierung),
– Biotopzerstörung und -veränderung,
– unkontrollierte Jagd und Fischfang,
– Überfischung der Meere,
– Umweltbelastungen von Boden, Wasser und Luft,
– Millionen Tonnen Plastik- und Elektroschrott,
– Verdrängung durch invasive Arten.
Meist liegen Kombinationen verschiedener Ursachen vor, und oft ist es nicht einfach, natürliche und anthropogene – also vom Menschen verursachte – Komplexwirkungen zu unterscheiden.
Nachdem anfangs, vor allem seit den 1990er Jahren die Aufmerksamkeit besonders der Naturraumbedrohung tropischer Landökosysteme galt (insbesondere der Regenwälder und der Zerstörung der Korallenriffe), sind mittlerweile auch die Ozeane, die Meere, Inseln, Wüsten, die Antarktis und selbst die Arktis in den Fokus gerückt. Die Unterzeichner der Biodiversitätskonvention von 1992 haben sich verpflichtet, die natürliche Biodiversität des gesamten Globus zu erhalten, einen nachhaltigen Umgang mit ihr zu pflegen und die genetischen Ressourcen der Erde fair zu verteilen. So ist erstmals ein weltweites politisches Mandat entstanden, welches neben dem Klimaschutz die zentrale Umweltaufgabe für das 21. Jh. bildet. Das ist und bleibt – trotz aller Rückschritte – die elementare Zukunftsaufgabe.
Weiterführende Literatur/Quellen
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Geologischer Dienst NRW (Hg.) (2016): Geologie und Boden in Nordrhein-Westfalen. Krefeld |
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Hallmann C.A., M. Sorg, E. Jongejans et al. (2017): More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809) |
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Helbing, F., T. Fartmann F. Löffler und D. Poniatowski (2017): Effects of local climate, landscape structure and habitat quality on leafhopper assemblages of acidic grasslands. In: Agriculture, Ecosystems and Environment 246, S. 94–101 |
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MULNV NRW Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2017): Umweltwirtschaftsbericht Nordrhein-Westfalen 2017. Düsseldorf |
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Pott, R. (2013): Biodiversitätskrise und das "Sechste Massensterben" auf der Erde? In: Berichte der Reinhold-Tüxen-Gesellschaft, Band 25. Hannover, S. 7–36 |
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Streitberger, M., W. Ackermann, T. Fartmann et al. (2016): Artenschutz unter Klimawandel. Perspektiven für ein zukunftsfähiges Handlungskonzept. Bonn (= Naturschutz und Biologische Vielfalt, Heft 147) |
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www.lwl.org/LWL/Kultur/Westfalen_Regional/Naturraum/Endemiten |
Erstveröffentlichung 2018