Die Renaturierung von Fließgewässern rückt seit den 80er Jahren des vergangenen Jh.s zunehmend in das Blickfeld der Öffentlichkeit, nachdem die Bedeutung von Flüssen und Bächen als Lebensraum von Flora und Fauna sowie als Bestandteil vernetzter Ökosysteme bewusst geworden ist. Alarmierende Ergebnisse der Gewässergütebeobachtungen zeigten, dass nicht nur die Identifizierung und Eliminierung von Schadstoffquellen zur Verbesserung des Gewässerzustands notwendig sind, sondern auch die Selbstreinigungskräfte der Fließgewässer reaktiviert werden müssen. Dies setzt die Wiederherstellung natürlicher oder zumindest naturnaher Gewässerstrukturen und damit naturnaher Lebensräume voraus. Solche Erkenntnisse schlugen sich u. a. in der Anfertigung von Gewässerstrukturgütekarten nieder, die in Anlehnung an die Gewässergüteerhebung einer siebenstufigen Skala folgend die Bewertung des gewässermorphologischen Zustands enthalten. Zahlreiche Projekte zur naturnahen Umgestaltung von Fließgewässern waren und sind die Folge: Sowohl kleine, oft auf Eigeninitiative der Städte und Kommunen zurückgehende Maßnahmen an Bächen als auch die großen Renaturierungsvorhaben an Flüssen wie Lippe, Ems und Ruhr oder im gesamten Einzugsgebiet der Emscher sind hier zu nennen.
Mit Verabschiedung der so genannten EU-Wasserrahmenrichtlinie am 23.10.2000 ist erstmalig auch ein einheitlicher gesetzlicher Rahmen mit weitreichenden Konsequenzen für die Wasser- und Gewässerschutzpolitik der Mitgliedsstaaten geschaffen worden. Die Richtlinie formuliert als Ziel, alle Gewässer bis zum Jahre 2015 in einen "guten Zustand" zu versetzen. Bereits im Jahr 1990 hatte das damalige Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen das so genannte Gewässerauenprogramm ins Leben gerufen, dessen Ziel es ist, Flussauen und Gewässernetze als die natürlichen Lebensadern der Landschaft zu erhalten und zu reaktivieren. Von der Quelle bis zur Mündung sollen Gewässer mit ihren Überschwemmungsräumen ökologisch entwickelt werden und dadurch landesweit ein Gewässerauenverbund entstehen. Das Programm ergänzt durch die Förderung der Selbstreinigungskraft der Fließgewässer die Aktivitäten zur Gewässerreinhaltung. Die Reaktivierung von Überflutungsbereichen soll gleichzeitig Voraussetzungen für einen ökologischen Hochwasserschutz schaffen.
Bestandsaufnahmen an der Lippe und ihrer Aue zeigten, dass zwar noch Restbestände der ursprünglichen typischen Pflanzen- und Tierarten zu finden waren. Nach früheren Ausbaumaßnahmen war die Lippe jedoch in ihrem Verlauf stark verkürzt und das Flussbett mit Steinschüttungen in ein tiefes, schmales Regelprofil gezwängt worden. Um wieder ein bedeutender Lebensraum für Pirol, Eisvogel und seltene Fische zu werden, waren Änderungen nötig. Ein erster Schritt wurde 1997 in der Klostermersch bei Lippstadt-Benninghausen gemacht. Dort fließt die Lippe jetzt wieder in einem breiten und flachen, vermutlich naturnahen Querprofil. Hierzu wurden zunächst die Steinschüttungen entfernt, mit Hilfe von Baggern neue Profile angelegt und die gewässermorphologische Eigendynamik im Gerinnebett der Lippe wiederbelebt. Jährliche Hochwasserereignisse sorgen nun wieder dafür, dass der auentypische Wechsel zwischen Überfluten und Trockenfallen sowie die damit verbundenen morphodynamischen Prozesse möglich sind.
Auch das Ems-Auen-Schutzkonzept fand seinen Ausgangspunkt im Gewässerauenprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen, nachdem bereits im Jahr 1980 damit begonnen worden war, die Ems bei Rietberg naturnah umzugestalten. Im natürlichen Zustand war die Ems ein typischer Flachlandfluss mit weiten Mäanderbögen, die sich in dem überwiegend sandigen Substrat ständig verlagerten. Es bildete sich eine weite Talaue mit zahlreichen Altarmen und vielfältigen Lebensräumen für Flora und Fauna. Umfangreiche Ausbauarbeiten seit den 1930er Jahren dienten in erster Linie dem Hochwasserschutz, indem die Ems begradigt und in ein einheitliches Trapezprofil verlegt wurde. Die strukturreiche Aue mit ihrer Tier- und Pflanzenvielfalt ist einer weitgehend monotonen und artenarmen Agrarlandschaft gewichen, mit der Folge einer Schwächung der Selbstreinigungskraft des Gewässers. Ziele des Ems-Auen-Schutzkonzeptes sind die Wiederherstellung einer naturnahen Gewässerlinienführung, eine Reaktivierung der Aue als natürliche Überflutungsfläche und die Extensivierung der angrenzenden landwirtschaftlichen Nutzung in einem 94 km langen Abschnitt zwischen Harsewinkel und Rheine (s. Beitrag Wittkampf). An einer rund 7,5 km langen Gewässerstrecke zwischen Telgte und Münster-Handorf wurden zur Laufverlängerung der Ems bereits drei ehemalige Altarme angeschlossen, die Böschungsfußsicherung entfernt und eigendynamische Prozesse initiiert.
Renaturierte Fließgewässer in Westfalen
Für die Ruhr ist die Umsetzung des Auenkonzepts Mittlere Ruhr im Bereich von Arnsberg-Neheim (s. Beitrag Vielhaber) bis Wetter (Ruhr) geplant. Auch hier sieht das Konzept u. a. vor, künstliche Uferbefestigungen zu entfernen, um eine eigendynamische Entwicklung des Flusses zu fördern und somit die Überflutungshäufigkeit der Aue zu erhöhen sowie Laufveränderungen des Flusses aus eigener Kraft zu initiieren. Eine derartige Eigendynamik zeigt u. U. erst nach langer Zeit die gewünschten gewässermorphologischen Strukturen, ist jedoch wesentlich kostengünstiger als ingenieurtechnische Eingriffe des naturnahen Wasserbaus. Um die Durchgängigkeit des Gewässers für die zahlreichen Gewässerlebewesen zu gewährleisten, sollen Wehre möglichst entfernt oder mit Fischtreppen ausgestattet werden, da insbesondere Wanderfische zum Erreichen ihrer Laichplätze auf einen ungehinderten Aufstieg angewiesen sind. Die Ausweisung einiger Auen als Naturschutzgebiete soll den heutigen Zustand sichern. Im Idealfall kann diese Ausweisung die gesamte Überflutungsaue mit angrenzenden naturschutzwürdigen Flächen umfassen. Ist dies aufgrund großer Interessenkonflikte nicht möglich, sollen zumindest die regelmäßig überfluteten Bereiche mit wertvollen Lebensgemeinschaften und Flächen, die für den Biotopverbund bedeutsam sind, in ein Naturschutzgebiet einbezogen werden. Zum Erhalt der Auendurchgängigkeit ist beabsichtigt, zu beiden Seiten einen möglichst breiten unbewirtschafteten Uferstreifen auszuweisen. Eine hierzu erforderliche Extensivierung der Flächennutzung in der Aue, beispielsweise die Umwandlung von Acker in Wiesenfläche, kann nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Grundlage der Extensivierungen sind vom Land Nordrhein-Westfalen angebotene Bewirtschaftungsverträge, die als privatrechtliche Vereinbarung mit den Landwirten abgeschlossen werden. Hierin sichert das Land den Landwirten nach Ertragsklasse und Extensivierungsgrad gestaffelte Ausgleichsbeträge zu. In den letzten 10 Jahren hat das Staatliche Umweltamt Hagen rund 50 ha Ruhrauenfläche v. a. in Fröndenberg, Wickede und Neheim erworben. Alte Ackerstandorte wurden zu Naturschutzgebieten umgewandelt, um sie als naturnahe Mähweiden extensiv, dünger- und spritzmittelfrei nutzen zu können. Bei Neheim ist durch die ökologische Gewässerunterhaltung eine Ufersteilwand entstanden. Hier befinden sich eine landesweit sehr bedeutende Brutkolonie der Uferschwalbe mit über 300 Brutpaaren sowie Nistplätze des Eisvogels. In diesem Bereich sind infolge der Eigendynamik Laufaufweitungen und -verengungen, Schnellen, rückwärtige Stillbereiche, Schotterbänke und Inseln entstanden. Die Umsetzung des gesamten Auenkonzeptes erstreckt sich über den Zeitraum der nächsten 25 bis 30 Jahre.
Im Gegensatz zu den im Rahmen des Gewässerauenprogramms vorgestellten Maßnahmen an Teilabschnitten der großen Fließgewässer Westfalens bezieht die naturnahe Umgestaltung der Emscher das gesamte Einzugsgebiet mit all seinen Haupt- und Nebengewässern ein. Es handelt sich um einen infolge der Industrialisierung und hohen Bevölkerungsdichte anthropogen sehr stark veränderten Raum. Vor Beginn der Industrialisierung floss die Emscher als Flachlandfluss mit einem äußerst geringen Gefälle in einer verkehrs- und besiedlungsfeindlichen Bruchlandschaft. Alljährlich trat der Fluss bei Starkregenereignissen oder zur Schneeschmelze weit über seine Ufer und überschwemmte einen breiten Talboden. Mit Beginn der Industrialisierung, dem Vordringen des Bergbaus in die Emscherzone, der Wasserhaltung und dem raschen Bevölkerungswachstum seit etwa 1850 diente die Emscher zur Ableitung aller ungeklärten Abwässer. Die Ableitungskapazitäten der ohnehin abflussschwachen und zu Überschwemmungen neigenden Emscher wurden durch Bergsenkungen zusätzlich verschlechtert, so dass die Abwässer massive Gesundheitsprobleme bei der Bevölkerung verursachten. Dies führte zur Gründung der Emschergenossenschaft im Jahre 1899, die ab 1904 die Gewässerregulierung durch den technischen Ausbau des kompletten Gewässersystems zu Abwassersammlern vorantrieb. Kanalisierte oder verrohrte, tief eingeschnittene Gewässerbetten, die der schadlosen und schnellen Ableitung der Abwässer dienten, prägten nunmehr die Landschaft. Ein weltweit einmaliges, offenes Abwassersystem war entstanden (Abb. 1; s. Beitrag Wittkampf). Im letzten Viertel des 20. Jh.s wurde dieses System zunehmend in Frage gestellt, da die Bergsenkungen infolge des Rückzugs des Bergbaus abklangen und zugleich die klärpflichtigen Schmutzwassereinleitungen aufgrund zahlreicher Betriebsstilllegungen reduziert wurden. Beides ermöglichte den Aufbau eines konventionellen Abwassersystems mit unterirdischen Kanälen und die naturnahe Umgestaltung der Oberflächengewässer zu Reinwasserläufen (Abb. 2). Erste Erfahrungen mit dem Pilotprojekt am Dellwiger Bach in Dortmund wurden ab 1981 gesammelt und seit 1988 in weitere Planungen umgesetzt. Die insgesamt mit 4,4 Mrd. Euro veranschlagten Kosten für die ökologische Umgestaltung des Emschersystems werden zu einem Großteil für den Bau unterirdischer Abwasserkanäle und Anlagen zur Regenwasserbehandlung eingesetzt. Bis zum Jahr 2014 sollen auf insgesamt 400 km Länge alle unterirdischen Abwasserkanäle fertiggestellt und im Jahre 2020 die gesamte ökologische Umgestaltung des Emschersystems abgeschlossen sein (s. Beitrag Wittkampf).
Weiterführende Literatur/Quellen
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Erstveröffentlichung 2007