Gräftenhöfe im Münsterland

01.01.2007 Werner Bockholt

weiterer Autor: Peter Weber

Abb. 1: Gräftensiedlungen in Westfalen um 1820 (Quelle: Urkataster)

Das Münsterland wird noch heute siedlungsgeographisch von Einzelhofsiedlungen geprägt, unter denen die Gräftenhöfe einen speziellen Typus darstellen. Dies sind bäuerliche Einzelhofsiedlungen, deren Charakteristikum ein Wassergraben (=Gräfte) ist, der die Hofstelle ganz oder in Teilen umgibt. Abb. 1 zeigt die räumliche Verteilung der Gräftensiedlungen in Westfalen um 1820 und verdeutlicht deren besondere Häufung im Münsterland. Zu diesem Zeitpunkt konnten etwa 1250 Gräftensiedlungen erfasst werden. Davon waren zwei Drittel bäuerliche Gräftenhöfe (=800), während der Anteil der adeligen Gräftenhäuser nur bei 27% (=350) lag. Umgräftete gewerbliche Gebäude machten nicht einmal 1% aller Gräftenanlagen aus und waren hauptsächlich in den industrialisierten südwestfälischen Mittelgebirgstälern verbreitet. Als typisch für den münsterländischen Bereich kann der Altkreis Lüdinghausen gelten: 1820 ließen sich hier noch 222 Gräftensiedlungen nachweisen, davon 204 als bäuerliche Höfe, 16 als adelige Häuser und zwei als gewerbliche Anlagen. Als eine Voraussetzung für die Anlage von Gräftensiedlungen wird häufig primär auf die naturräumlichen Grundlagen, insbesondere das Relief und die hydrogeographischen Verhältnisse, hingewiesen. Allerdings kann die Annahme, Gräftenhöfe seien ausschließlich im Kleimünsterland verbreitet, nicht bestätigt werden, denn auch das Sandmünsterland verfügt über eine stattliche Zahl von Gräftensiedlungen, da auch hier kleinräumig immer wieder die natürlichen Voraussetzungen für das Aufstauen von Gräften gegeben waren.

Zu den physiogeographischen Lagefaktoren kommen auch anthropogeographische Einflüsse für die Verteilung der Gräftenhöfe. So steht die Lage der Gräftenhöfe in Zusammenhang mit allgemeinen siedlungsgeographischen Verhältnissen im agrarischen Münsterland und ordnet sich diesen unter. Auffällig ist ein Vorkommen der Gräftenhöfe in dorf- und stadtfernen Lagen. Hierbei spielten möglicherweise politische Gründe eine Rolle, um administrative Randbereiche und verkehrsgeographische Abseitslagen durch umgräftete Hofanlagen zu erschließen und zu sichern. Diese Herausbildung von Gräftenhöfen in Randlagen lässt sich möglicherweise mit politischen Funktionen oder Ambitionen der Grundherren erklären.

Ein weiterer Erklärungsansatz für die Entstehung der Gräftensiedlungen lässt sich aus der siedlungsgeographischen Genese des Münsterlandes ableiten. Als Kulturvorbilder diente den Landwirten weniger das städtische Bürgertum als vielmehr der Landadel, dessen Wasserburgen und -schlösser im weiträumigen flachen Münsterland verstreut zu finden waren. Diese Adelssitze waren in der Regel mit Wassergräben umfriedet. In der Nachahmung dieser Siedlungsform dürfte die wesentliche Ursache für die Entstehung bäuerlicher Gräftensiedlungen liegen. Aus diesem Nachahmungsbedürfnis ergibt sich auch die primäre Funktion der Gräftenanlage, nämlich die der Repräsentation. Durch die Anlage der Gräfte konnten sich die Hofbewohner deutlich von den übrigen Hofstellen der Umgebung abheben.

Abb. 2: Bäuerliche Gräftensiedlungen im Münsterland - Formtypen nach dem Grundriss (1=Haupthaus, 2=Torhaus, 3=Speicher, Gräften sind schraffiert) (Quelle: Bockholt, W. u. P. Weber 1988, S. 10)
Allerdings wird man den Gräftenanlagen jedoch auch eine Schutzfunktion nicht absprechen dürfen. Diese wird verstärkt durch Schießscharten, die vor allem bei zahlreichen Torhäusern noch zu finden sind. Gerade im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit wird neben dem Wunsch nach Anerkennung und sozialem Prestige auch der Aspekt der Sicherung isoliert liegender Wohnplätze eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Gräftensiedlungen unterscheiden sich in funktionaler, formaler und sozialer Hinsicht. Neben den herrschaftlichen Gräftensiedlungen (Gräftenschloss, -burg, -haus) gibt es eine zweite typologische Gruppe, nämlich die der bäuerlichen Gräftensiedlungen. Hierbei ist zwischen dem Gräftenhaus, einem sozial aufgestiegenen Hof, dem Gräftenbauernhof (=Gräftenhof) und dem Gräftenpfarrhof zu differenzieren. Diese letztgenannte Form findet sich im Gegensatz zu den anderen beiden vorwiegend in Dörfern oder Kleinstädten. Eine Sonderform der Gräftensiedlungen stellen die gewerblichen Anlagen (z. B. Gräftenwindmühlen) dar.

Gräftenhöfe lassen sich nach funktionalen Grundrissformen weiter untergliedern (Abb. 2). Eine "klassische Form" ist die Hofplatzgräftenanlage, bei der die gesamte Hofanlage durch die Gräfte eingeschlossen ist. Bei einer Speichergräftenanlage wird nur der Speicher von einem Wassergraben umgeben. Die Speicherhofgräftenanlage ist eine Kombination dieser beiden Grundrissformen, wobei die Hofgräfte mit der Speichergräfte verbunden ist. Eine zusätzliche Gräfte kann sich auf eine Weide beziehen, die isoliert von einer Weidegräfte umgegeben ist oder als Hof- und Weidegräfte die Wohn-, Wirtschaftsanlagen und eine hausnahe Weide zusammen einschließt.
Abb. 3: Haus Runde, Billerbeck (Foto: H. Heineberg)
Auch unter genetischen und formal-gestalterischen Aspekten lässt sich eine Unterscheidung der Grundrisse vornehmen. Die gewachsenen Formen zeichnen sich durch eine unregelmäßige Anlage aus. Die Gräfte wurde dabei in der Regel an den Grundriss des Haupthauses angepasst. Bei den Planformen, die zumeist winklig-symmetrisch sind, steht eine klare bewusste Linienführung der Gräfte im Vordergrund. Darüber hinaus gibt es in formaler Hinsicht zahlreiche Misch- und Übergangsformen.

Die soziale Orientierung spiegelt sich ebenfalls in den Gräften der Höfe wider. Nur wenige Bauern waren in der Lage, ihre Höfe mit einer Gräfte zu umgeben. Es lässt sich somit eine deutliche Beziehung zwischen der sozialen Stellung des Bauern und der Existenz einer Gräfte herstellen. Vor allem Schulzen (oder Schulten), die in ihrer Bauerschaft bestimmte administrative und richterliche Aufgaben erfüllten und Sonderrechte hatten, verfügten über umgräftete Bauernhöfe. Nachgeordnete bäuerliche Schichten (z. B. Kötter) blieben stets ohne Gräftenhöfe.
Abb. 4: Haus Vögeding, Münster (Foto: H. Heineberg)

Der herausgehobene soziale und wirtschaftliche Stellenwert der Gräftenhöfe macht sich auch beim Aufriss bemerkbar. Dieser zeichnet sich oftmals durch ein umfangreiches Gebäudeprogramm aus, das durch Sonderbauten wie Brauhäuser oder Hofkapellen, die nicht zum allgemein üblichen Gebäudebestand eines münsterländischen Gräftenhofes gerechnet werden können, ergänzt werden konnte.

Die Bedeutung der Gräften nahm bereits zu Beginn des 19. Jh.s in ihrer baulichen Gestalt rapide ab. Wirtschaftliche Erfordernisse, ausgelöst durch Modernisierung und Technisierung sowie mangelnde Pflege der Gräfte und die damit verbundene Ungezieferplage führten letztendlich dazu, dass die Gräften vielfach verlandeten und/oder zugeschüttet wurden. Auch die charakteristische Bausubstanz des münsterländischen Gräftenhofes mit einem festgelegten Gebäudeprogramm, das sich aus einem Haupthaus und den oftmals zahlreichen Nebenbauten wie Speicher, Torhaus, Brauhaus, Scheune, Schweinestall und Schafstall zusammensetzte, konnte sich angesichts der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Zeit nicht erhalten. Viele Bauten wurden in den letzten 100 Jahren abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Dieser Wandel, der sich wirtschaftlich und baulich verdeutlicht, hat dazu geführt, dass Gräftenhöfe in ihrer ursprünglichen Form nur noch selten anzutreffen sind; aber bei allen Veränderungen sind sie ein wesentliches Element in der Siedlungsstruktur des Münsterlandes geblieben. In der Gegenwart finden sich in der Agrarlandschaft des Münsterlandes nur noch wenige in ihrer fast ursprünglichen Gestalt erhaltene Gräftenhöfe.

Die Aufgaben des Denkmalschutzes ergeben für die Erhaltung der Gräftensiedlungen erhebliche Probleme. Trotz des Bemühens, die wenigen noch erhaltenen Gräftenhöfe im Münsterland mit Hilfe des Denkmalschutzgesetzes in ihrem Aussehen und ihrer Struktur exemplarisch für die Zukunft zu erhalten, müssen aufgrund der Tatsache, dass diese Höfe weiterhin landwirtschaftlich funktionsfähig bleiben können und müssen, Kompromisse gefunden werden.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007