25 Jahre saurer Regen in Westfalen

01.01.2007 Jürgen Lethmate

Kategorie: Naturraum

Schlagworte: Westfalen · Boden · Umweltverschmutzung · Saurer Regen

Robert A. Smith, Chemiker und Schüler von Justus von Liebig, hat in seinem 1872 erschienenen Buch "Air and Rain" ("Luft und Regen") den Begriff "acid rain" ("saurer Regen") geprägt. Smith beobachtete eine deutliche Zunahme von freier Säure (Wasserstoff-Ionen: H+-Ionen) im Niederschlagswasser von Industriegebieten. Seit 1870 regnet es also sauer, der saure Regen ist nicht erst seit Beginn der "Waldsterben"-Debatte um 1970 bekannt. Die Stoffe, die den Regen sauer machen, vor allem Schwefeldioxid und Stickoxide aus Verbrennungsprozessen, lagen wahrscheinlich bereits 1870 in etwa auf dem Niveau wie 1980. Zwischen 1870 und 1980 dürfte es keine grundlegenden Unterschiede im Säuregrad des Regens gegeben haben, die pH-Werte bewegten sich im sauren Bereich um pH 4, also deutlich unter dem natürlichen Bereich von pH 4,5 bis 8,0.
Abb. 1: Vergleich von pH-Werten des Freilandregens westfälischer Messstationen im Messzeitraum der 1980er Jahre und 2004 (Entwurf: J. Lethmate)
Auch in Westfalen ist der saure Regen sicher älter als 25 Jahre, aber seit 25 Jahren werden landesweit in zahlreichen Messstationen Messwerte des sauren Niederschlags erhoben. Die westfälischen pH-Werte, immer bezogen auf den Freilandregen, pendeln in den 1980er Jahren um den mittleren Säuregrad des "deutschen" Regenwassers, zur damaligen Zeit pH 4,3. Der Regen war also auch in Westfalen anthropogen versauert (Abb. 1). Im Gegensatz zu früher (1870) dürften sich im ausgehenden 20. Jh. die Unterschiede im sauren Regen zwischen so genannten Reinluftgebieten auf dem Lande und industriellen Belastungsgebieten stärker ausgeglichen haben. So lag der Gebietsmittelwert des Sauerland-Regens in den 1980er Jahren bei pH 4,17 und  übertraf den pH-Wert des Regens einer Ruhrgebietsstadt wie Bochum (Abb. 1: pH 4,1) nur um 0,07 Einheiten. Die sauren Regen im Ballungsraum und Reinluftgebiet waren nahezu identisch, der Begriff "Reinluftgebiet" ad absurdum geführt.

Die im Münsterland gemessenen pH-Werte des Regens lagen von Anfang an um 0,3 bis 0,5 pH-Einheiten höher als im südlichen und östlichen Westfalen (Abb. 1). Das scheint gering, es muss aber der logarithmische Charakter der pH-Werte bedacht werden. So entspricht eine pH-Absenkung um 0,3 Einheiten etwa einer Verdopplung, eine Absenkung um 1 Einheit einer Verzehnfachung der Säureaktivität. Der pH-Anstieg im Münsterland erklärt sich durch die Ammoniakemissionen der Massentierhaltung; Ammoniak (NH3) neutralisiert einen Teil der freien Säure (H+) im Regenwasser unter Bildung von Ammonium (NH4+). Folglich steigen die pH-Werte. Anschaulich wird dieser Effekt besonders im Vergleich der pH-Werte im Regen des nordwestlichen und südöstlichen Teutoburger Waldes (Abb. 1). Während der Regen im Nordwesten des Waldgebietes in den 1980er Jahren einen mittleren Säuregrad von pH 4,4 aufwies, lag dieser im südöstlichen Teutoburger Wald bei pH 3,3. Der Regen war hier also ca. zehnfach saurer, der Einfluss des münsterländer Gülle-Belts mit seinen hohen Ammoniakemissionen war im südöstlichen Teutoburger Wald weniger wirksam, hier prägten auf dem Luftweg herantransportierte Säurebildner aus dem Ballungsraum Rhein-Ruhr den Säuregrad des Regenwassers.
Abb. 2: Entwicklung der pH-Werte > 5 im Freilandregen an Waldmessstationen Nordrhein-Westfalens (Quelle: LÖBF 2006)

Vor und nach der Jahrtausendwende verminderte sich der Säuregrad des Regens infolge rückläufiger Säurebestandteile auch in Westfalen deutlich (Abb. 1, 2004-Daten). Der Anteil von Regenwasserproben mit pH-Werten > 5  stieg von weniger als 10% Anfang der 1980er Jahre auf fast 60% in den Messjahren 2003/2004 (Abb. 2). Besonders drastisch war der pH-Anstieg im Regen des Münsterlandes und des in Hauptwindrichtung nachgelagerten nordwestlichen Teutoburger Waldes (Abb. 1). Die Zunahme vom pH-Mittel 4,4 auf 6,4 bzw. 6,2 bedeutet eine Abnahme der freien Säure um etwa das Hundertfache. Im Messzeitraum 1985/1986 schwankten die Regen-pH-Werte (Monatsmittel) im nordwestlichen Teutoburger Wald zwischen 3,6 und 4,8, der Freilandregen war also meist anthropogen versauert. 19 Jahre später, im Messzeitraum 2004/2005, lagen die pH-Werte zwischen 6,0 und 6,9, erreichten also fast den chemischen Neutralpunkt pH 7.

Da der saure Regen definitionsgemäß nur die freie Säure umfasst, nicht aber die verborgene Säure, sind pH-Werte allein ein ökologisch trügerisches Maß. Der entsäuerte Regen hat noch immer saure Wirkungen. Im Regen bleiben sie verborgen, "versteckt" im Ammonium-Molekül. Im Boden aber setzt das mit dem Regen eingetragene Ammonium H+-Ionen frei, entweder direkt bei der Pflanzenaufnahme oder indirekt über die Nitratbildung. Zudem wirken Ammonium und Nitrat düngend, verstärken also das Nährstoffüberangebot, die sog. Eutrophierung. Besonders betroffen sind im Münsterland noch vorkommende sand-oligotrophe Biotope mit sehr seltenen Pflanzenarten. Der saure Regen mit seinen niedrigen pH-Werten mag der Vergangenheit angehören, die versauernden und eutrophierenden Effekte des Regens im Ökosystem aber keinesfalls. Sie stellen heute das eigentliche Umweltproblem dar.

Beitrag als PDF-Datei ansehen/speichern (Größe: 2,4 MB)

↑ Zum Seitenanfang


Weiterführende Literatur /Quellen

Erstveröffentlichung 2007