Phasen und Räume der Stadtentwicklung in Westfalen bis zum Beginn der modernen Neuzeit

01.01.2007 Hans Friedrich Gorki

Als Siedlungen, die sich vom ländlich-agraren Umland rechtlich durch eine besondere Stellung und funktional durch zentralörtliche Wirksamkeit abheben, bilden die Städte im rechtsrheinischen Nordwestdeutschland eine Siedlungsklasse, deren Anfänge in das 9. Jh. zurück reichten. Voraussetzung war die Eingliederung des Raumes in den fränkischen Machtbereich; denn damit kam es zur Ausbildung der kirchlichen Bereichsgliederung, die von den Stätten religiöser Lenkung und Administration getragen wurde. Jetzt entstand ein System im eigentlichen Sinne unumgänglicher Zentren vom Bischofssitz bis zu den Kirchen und Klöstern, von denen man in Westfalen bereits für die Zeit um 800 ca. 40 erschlossen hat.
Abb. 1: Stadtrechtsorte in Westfalen bis 1803 (Entwurf: H.F. Gorki, Quellen: Gorki 1976, Haase 1984)

Im weitmaschigen Netz bedeutender Fernhandelsstraßen bot sich bis etwa 1180 für eine zunächst geringe Anzahl von Orten die Möglichkeit zur Ausbildung des Typus der mittelalterlichen Stadt, und zwar mit den wesentlichen Merkmalen des Rechtes, der Verfassung, des Wirtschaftslebens und der Befestigung. Abb. 1 weist aus, dass dazu die Bischofssitze Münster, Paderborn und Minden gehören (außerdem Osnabrück), die Hellwegstädte Dortmund, Soest und Höxter sowie - noch nicht hinsichtlich aller Merkmale voll entwickelt - Siegen, Medebach, Arnsberg, Geseke, Warburg, Herford, Niedermarsberg und Corvey, von denen die beiden letztgenannten bald ausschieden.

Bis zum Jahre 1180 vollzieht sich das Werden des westfälischen Städtewesens im umfassenden Rahmen der Reichsgeschichte. Nun aber, markiert durch den Sturz Heinrichs des Löwen, treten partikulare Gewalten in den Vordergrund; die Territorien bilden sich heraus. Dieser Prozess hatte starken Einfluss auf das Entstehen neuer Städte, und dementsprechend hat C. Haase die Phasen der Stadtentwicklung herausgearbeitet, die vereinfacht Abb. 1 zu Grunde liegen.

In den 60 Jahren der Epoche von 1180 bis 1240 entstehen 29 neue Städte, von denen nur drei rasch wieder ausfallen. Jetzt wird der Typ vervielfältigt, der während des langen vorangehenden Zeitraumes sich herausgebildet hat. Stadtgründer sind Fürsten und kleinere Dynasten, die den Vorteil wirtschaftlich aktiver Zentren erkennen und zum Ausbau ihres Machtbereiches nutzen wollen. Unter den nun entstehenden Städten sind viele planmäßig angelegte - als erste Lippstadt kurz nach 1180; das drückt sich in ihrer Grundrissgestalt aus. Ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entsprechend, ist die Verkehrslage durchweg wichtiger als die Schutzlage.

Bereits in der Mitte des 13. Jh.s zeigt die räumliche Verteilung der bislang entstandenen Städte eine Besonderheit, nämlich die Dominanz der Westfalen diagonal querenden Rhein-Weser-Achse (Abb. 1), die in Anlehnung an gegenwärtige wirtschaftliche Teilräume abgegrenzt ist. Nach ihrer Ausdehnung macht sie etwa ein Drittel des heutigen Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe aus, doch von den insgesamt 34 Städten, die auf dessen Fläche bis 1240 entstanden oder gegründet wurden und die Bestand hatten, umfasst sie 16. Im nordwestlichen Flankenraum reihen sich sechs, zwölf sind über den recht ausgedehnten Flankenraum des Südostens verteilt.

Zwischen 1240 und 1350 wird bei Neugründungen der Stadtbegriff anspruchsloser; manche Merkmale treten zurück. Da die kriegerischen Auseinandersetzungen zunehmen, wächst das Bedürfnis nach befestigten Plätzen, und zwar besonders in den Grenzzonen einander oft feindlich gegenüberstehender Territorien. Es kommt nun auch zur Anlage von Klein- und sogar Zwergstädten. Zwar wird das Recht weiterhin von den älteren Städten übernommen, doch der wirtschaftliche Sektor ist häufig nur schwach. Besonders deutlich zeigt sich das im oberen Weserbergland. Oft tritt jetzt der Typ der Minderstadt auf, im Sauerland "Freiheit" genannt und im Münsterland als "Wigbold" bezeichnet. Zwar haben diese Minderstädte mit den herkömmlichen Städten noch viele Züge des Rechtes gemeinsam, doch sind sie nicht mehr als Städte im umfassenden Sinne dieses Begriffes geplant.

Die Epochen von 1180 bis 1350 bilden einen Zeitabschnitt, in dem der zuvor herausgebildete Typ der Stadt sich als nützlich und zukunftsweisend erwies und die junge Siedlungsklasse sich mit zahlreichen neuen Individuen über das Land verbreitete. Dabei zeigte sich jedoch, dass die zur wirksamen Ausübung voller städtischer Funktionen lagegünstigen Plätze bald besetzt waren und für neue Städte kaum noch wirklicher Bedarf vorlag.

In der Epoche von 1350 bis 1520 entstehen die letzten ummauerten, wirklich mittelalterlichen Städte. Im Vordergrund steht allerdings die Minderstadt. Das Zeitalter des Feudalismus endet, und es erfolgt ein langsamer Übergang zur staatsrechtlichen Form der Landesherrschaft. Damit schwindet die Bedeutung des westfälischen Städtewesens.

Die neuzeitliche Epoche von 1520 bis 1803 bringt zunächst nur wenige neue Städte oder Minderstädte. Demgegenüber zeigt sich nach 1648 etwas Neues, und zwar mit dem in den preußischen Territorien entwickelten Typ der Akzisestadt. Sie ist eine Hervorbringung des absolutistischen Staates, dem die Unterhaltung des nun erforderlichen stehenden Heeres erhöhte Finanzlasten aufbürdet, was zur rationellen Ordnung des staatlichen Finanzwesens Anlass gab. Nach ostelbischem Muster wurde in den neu erworbenen Gebieten des Westens eine klare steuerliche Trennung von Stadt und Land eingeführt. Auf dem Lande wurden die sog. Kontributionen erhoben, während für die Städte als Orte des produzierenden Gewerbes und des Handels die Akzise vorgesehen war, ein Bündel von Verbrauchs-, Umsatz- und Gewerbesteuern. Demgemäß wurden Dörfer und Minderstädte mit nennenswertem Handel und Gewerbe zu "Städten" erhoben.

Mit der mittelalterlichen Stadt hatten diese Akzisestädte nichts mehr gemeinsam. Sie wie auch die älteren Städte, in denen die Akzise eingeführt wurde, hatten kein autonomes Stadtrecht mehr, sondern eine staatlich geregelte Magistratsverfassung. Damit verweisen sie auf die spätere Entwicklung in den durchorganisierten modernen Staaten. Das alte, originäre Städtewesen, das den Verhältnissen des alten Reiches entstammte, fand mit diesem nach einer langen Zeit des Niedergangs am Beginn des 19. Jh.s sein Ende.

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Weiterführende Literatur/Quellen

Erstveröffentlichung 2007