Werkstätten für behinderte Menschen in Westfalen − ein wichtiger Baustein des zweiten Arbeitsmarktes
Definition und Entstehung
Die Möglichkeiten von geistig und psychisch behinderten Menschen zur Teilhabe am Arbeitsleben haben sich seit den 1950er Jahren erheblich verbessert. Zentrales Instrument sind dabei die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM
Der Begriff und die Aufgaben von Werkstätten für behinderte Menschen sind heute in Deutschland gesetzlich definiert, und zwar in §219 des Sozialgesetzbuches (SGB) IX. Danach sind Werkstätten für behinderte Menschen Einrichtungen zur Teilhabe dieser Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das (sonstige) Arbeitsleben. Sie haben denjenigen Menschen, die nicht oder noch nicht /nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäftigung zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt anzubieten. Die Einzelheiten der Einrichtung von WfbM sind in der sog. Werkstättenverordnung des Bundes von 1980 geregelt. Dort ist u.a. festgelegt, dass WfbM mindestens 120 Plätze haben sollen (§7) und die Einzugsgebiete so bemessen sein sollen, dass sie für Menschen mit Behinderung mit öffentlichen Verkehrsmitteln in zumutbarer Zeit erreichbar sind (§8). In jedem Kreis bzw. jeder kreisfreien Stadt soll eine WfbM vorhanden sein. Diese Vorschriften erklären die heutige Standortlandschaft jedoch nur unvollständig. Vielmehr sind das Vorhandensein und die Aktivitäten − schon vor der Gründung von WfbM − bestimmter Träger der Behindertenhilfe vor Ort maßgeblich für die heutige Standortlandschaft.
Die Geschichte der Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Deutschland begann in Westfalen, genauer gesagt in Bielefeld. Noch vor seinem Tod im Jahr 1910 veranlasste Friedrich von Bodelschwingh in den nach ihm benannten Anstalten in Bielefeld die Gründung von Arbeitsstätten speziell für Menschen mit Behinderung (wikipedia.org). In den nächsten Jahrzehnten kam es jedoch noch nicht zu einer systematischen Weiterentwicklung der Werkstättenlandschaft. Erst ab den 1950er Jahren stieg die Zahl der WfbM (oder "beschützenden Werkstätten", wie sie in den Anfangsjahren oft genannt wurden) sprunghaft an. Heute gibt es in Deutschland über 800 WfbM.
Anzahl und Träger von WfbM in Westfalen
Derzeit existieren in Westfalen 58 WfbM. Die Zahl der Standorte ist deutlich höher, da die meisten WfbM über mehrere Standorte (bis zu 20) verfügen.
Die Trägerlandschaft der WfbM ist sehr vielfältig. Neben den örtlichen Vereinigungen der Lebenshilfe (als der klassischen Selbsthilfevereinigung der Angehörigen geistig behinderter Menschen) sind auch die beiden großen Wohlfahrtsverbände der Kirchen − Caritas und Diakonie − sowie kirchliche Orden und Stiftungen stark vertreten − vor allem aus dem evangelischen Bereich, wie die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld, die Perthes-Stiftung oder die Stiftung Eben-Ezer in Lemgo. Auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist Träger einer Reihe von WfbM. Eine Besonderheit stellt die WfbM "wertkreis Gütersloh" dar, bei der eine kommunale Gebietskörperschaft (Kreis) der Hauptträger ist. In Westfalen lässt sich keine deutliche regionale Häufung von bestimmten Trägergruppen feststellen, außer dass die Caritas und katholische Stiftungen erwartungsgemäß in den Gebieten mit stärkerem katholischen Bevölkerungsanteil (Münsterland, Sauerland, Paderborner Land) stärker vertreten sind, die diakonischen Einrichtungen und Stiftungen dagegen stärker in den Gebieten mit höherem Bevölkerungsanteil evangelischer Christen (nördliches Ostwestfalen, Kreis Unna, Ennepe-Ruhr-Kreis, Hagen).
Die WfbM werden von der Rechtsform her entweder überwiegend als Abteilungen ihrer Träger geführt oder in der Form von gemeinnützigen GmbH.
Je Kreis bzw. kreisfreie Stadt existieren zwischen einer (Kreise Warendorf, Paderborn, Olpe, Siegen-Wittgenstein, Unna, kreisfreie Städte Bochum, Bottrop, Herne) und vier (Ennepe-Ruhr-Kreis, Hochsauerlandkreis, Kreise Steinfurt und Lippe; Abb. 1) WfbM mit dazu sehr unterschiedlicher Größe. Die durchschnittliche Zahl an Werkstätten liegt in Westfalen bei 2,1 je Kreis bzw. kreisfreier Stadt. Die meisten WfbM verfügen zudem über Zweigstellen. Deren Zahl liegt häufig bei unter 10 je WfbM, in Einzelfällen aber bei bis zu 20 (pro Werk Bethel). Die Zweigstellen sind entstanden zur besseren räumlichen Abdeckung des Einzugsgebietes, aber auch aus Platzmangel an den ursprünglichen Standorten oder wegen einer immer stärkeren Diversifizierung der Produkte und Dienstleistungen.
Beschäftigtenzahlen
Die Zahl der Arbeitsplätze für behinderte Menschen je WfbM schwanken sehr stark. Die größten Werkstätten haben mehr als 1.600 behinderte Beschäftigte (Recklinghäuser Werkstätten gGmbH, pro Werk Bethel, Caritas Werkstätten im Erzbistum Paderborn), die kleinsten nicht einmal 100 (Camphill Sellen gGmbh Steinfurt, Blindenwerk Hagen gGmbh).
Die Zahl der Plätze je Kreis bzw. kreisfreie Stadt liegt zwischen 600 in Bottrop und 2.920 im Kreis Minden-Lübbecke. Die Zahl der Plätze je 1.000 Einwohner schwankt deutlich und liegt zwischen 1,7 in Bochum und 9,4 im Kreis Minden-Lübbecke (Abb. 1). Hierbei spielen die Standorte von traditionellen großen Einrichtungen der Behindertenhilfe eine Rolle, die vor allem in der Vergangenheit auch aus dem überregionalen Bereich Behinderte aufgenommen haben.
Insgesamt arbeiteten im Jahr 2022 40.942 behinderte Beschäftigte in den westfälischen WfbM (rehadat.de), davon 37.513 Leistungsberechtigte aus Westfalen (LWL 2023, S. 7). Wenn man die Bedeutung der WfbM für den regionalen Arbeitsmarkt betrachtet, so darf man natürlich nicht nur die Arbeitsplätze für behinderte Menschen sehen, sondern muss in die Betrachtung auch die erheblichen Zahlen der in der Betreuung dieser Menschen Tätigen einbeziehen. Genaue Daten hierzu liegen nicht vor bzw. werden aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht. Es dürften jedoch ca. 20.000 Beschäftigte in der Betreuung und ergänzenden Dienstleistungen in den WfbM tätig sein. Damit arbeiten in manchen Standortgemeinden mehr als 10% aller vor Ort Beschäftigten in WfbM.
Arbeitsfelder und Verflechtungen mit der regionalen Wirtschaft
Die WfbM verfügen in der Regel (abhängig von ihrer Größe) über ein mehr oder weniger breites Feld an Abteilungen und Arbeitsfeldern im Produktions- und Dienstleistungsbereich. Dies ist zum einen ihrem gesetzlichen Auftrag geschuldet. Das Sozialgesetzbuch IX legt in §219 fest, dass die Werkstatt über ein möglichst breites Angebot an Arbeitsplätzen verfügen soll, um Art und Schwere der Behinderung, unterschiedliche Leistungsfähigkeit, Entwicklungsmöglichkeiten sowie Eignung und Neigung der behinderten Menschen soweit wie möglich Rechnung zu tragen.
Zum anderen hängt die Zahl und Stärke der Arbeitsfelder durchaus mit der regionalen Nachfrage nach bestimmten Produkten, aber auch mit Verflechtungen mit der übrigen regionalen Wirtschaft zusammen, denn ein nicht unerheblicher Teil von Arbeitsplätzen in den WfbM ist in Kooperationen mit örtlichen Industrie- oder Dienstleistungsbetrieben angesiedelt. Hier übernehmen die Werkstätten die Fertigung von Produkten bzw. Teilen davon für Kooperationspartner oder die Erbringung von Dienstleistungen. Diese Kooperationen dienen nicht zuletzt dazu, behinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten, denn auch dies ist eine Aufgabe der WfbM.
Die Arbeitsfelder der WfbM in der Produktion von Gütern liegen häufig in den Branchen Metall, Holz und Elektro. Hier sind Zuarbeiten und Fertigung von Teilen für Industriebetriebe sehr oft vertreten. Bei eigenen Produkten (solche, die von den WfbM selbst entwickelt, produziert und häufig durch sog. Werkstattläden auch vermarktet werden) sind Holz- und Textilartikel führend. Im Dienstleistungsbereich sind hauswirtschaftliche Leistungen vom Catering über die Wäsche- bis zu Raumpflege sowie gärtnerische Leistungen (Obst- und Gemüseanbau, Garten- und Parkpflege etc.) wichtige Arbeitsfelder.
So spielen die WfbM aufgrund der Zahl und Vielfalt ihrer Arbeitsplätze nicht nur sozialpolitisch eine wichtige Rolle, sondern sie sind auch regionalwirtschaftlich an ihren Standorten durchaus ein bedeutender Faktor.
Weiterführende Literatur/Quellen
- LWL Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.) (2023): LWL-Leistungsbericht 2023. Münster
- Sozialgesetzbuch SGB IX Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, Artikel 1 des Gesetzes vom 23.12.2016, BGBl I, S. 3234
- Werkstättenverordnung vom 13. August 1980, BGBl I, S. 1765
- https://de.wikipedia.org/wiki/Werkstatt_f%C3%BCr_behinderte_Menschen
- https://www.rehadat.de
Erstveröffentlichung 2023